Was ich am meisten in der Antarktis vermisst habe? Obst – und meine Familie natürlich. Das Essen war nicht schlecht auf der Station und die Köchinnen und Köche haben sich wirklich alle Mühe gegeben, aber die Möglichkeit mal schnell in den Laden zu gehen und frische Tomaten oder Äpfel zu kaufen, fehlt doch trotz allem. Aufgetaut und frittiert oder angerührt, viel mehr gibt es nicht auf dem antarktischen Kontinent. Aber auch andere, für uns in den Industrienationen so alltägliche Dinge wie das Duschen oder Baden, erlangen in der Antarktis eine ganz andere Bedeutung. Trotz des vielen Eises ist Wasser dort ein kostbares Gut. Und es würde dort niemandem in den Sinn kommen, einfach mal fünf Minuten unter der Dusche zu stehen und das Wasser über den Körper rieseln zu lassen. Hier im richtigen Leben machen wir uns keine Gedanken ob fünf Minuten, oder zehn Minuten, oder eine volle Badewanne. Ich nenne das „das richtige Leben“ weil das Leben in der Antarktis trotz des ganzen Luxus auf der Station, der uns ein Leben wie zu Hause vorgaukeln möchte, ein Leben in einer künstlichen Blase ist. Und das hat wenig mit materiellen Dingen zu tun, sondern ist nach meiner Erfahrung hauptsächlich psychisch bedingt. Man ist buchstäblich am Ende der Welt, abgeschnitten und isoliert. Der einzige Kontakt zum Rest der Welt ist die Kommunikation über Satelliten, die mal da sind und mal nicht, und Flugverbindungen, die sich als sehr unzuverlässig erweisen. Anfangs versucht man noch Zeitung online zu lesen oder sich sonst Informationen über Politik und die Welt dort draußen zu verschaffen. Aber mit der Zeit erkennt man, wie irrelevant die Probleme der Welt für das Leben auf der Station sind. Es gibt nichts zu kaufen – mein Geldbeutel liegt ganz unten in der Schublade und ich habe ihn seit Wochen nicht mehr angerührt, Gaspreise haben keine Bedeutung – der Treibstoff für unser Kraftwerk ist „einfach da“ bzw. wird uns geliefert, und der Krieg in der Ukraine – ja warum führen die Leute eigentlich Krieg? Es ist bezeichnend, dass in den vier Wochen, die ich auf der Station war, keine einzige Unterhaltung die Politik auch nur am Rande tangiert hat. Das ist alles so weit weg und bedeutungslos für unser Leben hier. Wenn es eine Utopie gibt, dann kommt das Leben auf der Station wohl am nächsten. Wir bekommen alles „von außen“ zur Verfügung gestellt. Es ist Wohnraum da, Essen wird für uns einkauft und wir können uns einfach bedienen, wir werden mit Kleidung eingedeckt, selbst mit Unterhaltung werden wir von außen versorgt. Kurzum, alles zum Leben erhalten wird von einer Art „Fürsorger“ für uns bereitgestellt. Ja, wir müssen uns nicht einmal morgens entscheiden, ob wir mit dem Fahrrad, dem Auto oder mit der S-Bahn zur Arbeit fahren. Oder überlegen, ob wir es noch nach der Arbeit rechtzeitig zum Einkaufen schaffen. Es gibt keine Arbeitslosigkeit, keine Armut (Geld hat keine Bedeutung hier), und im Normalfall auch keine Kranken. Das ist auf diese Weise eine sehr einfache Welt, in der wir da leben. Es ist ein Mikrokosmos mit dem einzigen Zweck, uns und die Station (und die wissenschaftlichen Experimente) am Leben zu erhalten.

Ich kann verstehen, warum Leute immer und immer wieder kommen. Manche Leute überwintern jahrelang hintereinander auf Stationen. Die Einfachheit ist anziehend; es werden keine komplexen Lebensentscheidungen erwartet. Und dennoch bleibt das Leben eine Utopie und man verliert allmählich den Bezug zur realen Welt dort draußen. Und am Ende kommen die Leute wieder, weil sie in der realen Welt und mit deren täglichen Herausforderungen nicht mehr zurechtkommen. Als wir damals mit dem Schiff nach Davis fuhren und die Station am Horizont auftauchte, stieß einer aus „ah, endlich zu Hause“. Ja, es ist ein zu Hause – aber nur von begrenzter Dauer. Irgendwann geht es zurück ins richtige Leben. Und ich bin froh, zurück zu sein.

Damit bin ich am Ende meiner täglichen Berichte angekommen. Mein Ziel war es, euch einen ungefilterten und persönlichen Einblick in das Leben am Südpol und die Reise dorthin zu geben. Manchmal waren die Berichte vielleicht etwas konfus – ich schrieb sie meistens spät abends vor dem schlafen gehen. Es sollten jedoch ganz bewusst keine redigierten Texte werden, denn damit gehen die oft spontanen Eindrücke verloren. Wenn ihr Fragen habt oder einfach noch mehr wissen wollt, könnt ihr euch gerne an mich wenden.

Schließlich möchte ich die Rolle Natalies nicht unerwähnt lassen. Ohne die Unterstützung meiner Frau hätte ich dieses Projekt, der Aufbau eines Lidars am Südpol, niemals durchführen können. Ich habe das Glück mit einer für mich ganz besonderen Frau verheiratet zu sein, die sich während meiner langen Abwesenheit allein um unsere drei Kinder kümmert. Und ich weiß, wie schwierig das Leben der Zuhausegebliebenen sein kann. Der Alltag geht einfach weiter, während der Partner außergewöhnliche Erfahrungen machen darf.

Die Tage in der Antarktis waren sicherlich außergewöhnliche Tage, oft anstrengend und herausfordernd. Und am Ende fragt man sich, war es das alles wert? Und ich meine damit nicht nur meinen persönlichen Einsatz. Damals vor 11 Jahren wie heute wünschte ich, ich hätte darauf eine eindeutige Antwort. Und so bleibt es bei denen, die nach uns kommen, ein Urteil über uns zu fällen.

Bernd

Christchurch, 7. Februar 2023