Heute ist der Trainingstag. Das Pflichtprogramm besteht aus einer Mischung von Meetings und Onlinekursen. Wir starten um 9 Uhr mit einem anderthalb Stunden dauernden Treffen zum Thema sexuelle Belästigung, was von einem externen Dienstleister geleitet wird. Nach ein paar allgemeinen Folien sollen wir in kleinen Gruppen vorgegebene Situationen diskutieren. Der Wissenschaftler ist hierbei immer der Böse. In meiner Gruppe will sich niemand äußern und es herrscht minutenlang Schweigen. Also frage ich in die Runde, ob das denn wirklich ein Problem sei, da ich das aus meinem Umfeld während meiner Reisen in die Antarktis nicht kenne. Eine Frau, die bereits seit über 10 Jahren jährlich nach McMurdo reist, bestätigt, dass es seit etwa 10 Jahren ein Problem in McMurdo gäbe, diese reflexhafte und stereotype Behandlung des Themas durch die Verantwortlichen bei der NSF aber nichts zur Lösung beitragen würde. Ihrer Erfahrung nach seien viele Vorfälle auf Missverständnisse zurückzuführen, die sich leicht vermeiden ließen, wenn Erwartungen klar kommuniziert würden. McMurdo sei eben eine „Hugging Community“, und wenn man nicht angefasst werden möchte, sollte man dies klar kommunizieren und dann würde das auch selbstverständlich respektiert werden. Vielleich ist es wirklich so einfach? Ich kann nicht viel dazu sagen, ich war bisher nur wenige Tage in McMurdo. Mit den stereotyp konstruierten Fallbeispielen, die wir eigentlich hätten diskutieren sollen, hat das jedenfalls nicht viel zu tun.

Weiter geht es mit Onlinekursen zu Themen wie IT-Sicherheit, Arbeitssicherheit, Umweltgefährdung, Antarktisvertrag, besondere Gefahren, verhalten im Brandfall und so weiter. Am Ende jeder Einheit müssen Antworten zu Kontrollfragen angekreuzt werden. Viele der Fragen sind trivial, bei anderen erschließt sich mir der Sinn der Antworten nicht. Das Problem an der Sache: wenn man eine Frage falsch beantwortet, muss man den kompletten Kurs wiederholen: wieder 150 Folien von Anfang an durchklicken bis man zu der entsprechenden Frage kommt. Also bei den Antworten nicht nachdenken, sondern einfach das ankreuzen, was zwei Folien weiter vorher stand. Irgendwann ist auch dieser Teil geschafft und ich habe damit formal alle Voraussetzungen für den für Montag geplanten Flug in die Antarktis erfüllt. Zum Abendessen treffe ich mich mit Dominique. Wir nehmen unsere Diskussion vom Vortag über den Stand unseres Wissenschaftsgebietes und laufender und zukünftiger Projekte wieder auf. Eine Lösung finden wir jedoch beide keine.

Später treffe ich mich mit Beni im Church Pub. Er und seine Kameraden verbringen dort ihre letzten Stunden vor dem Rückflug in die USA und feiern den Abschluss der Überwinterung. Das Church Pub ist tatsächlich eine ehemalige Kirche, die zum Pub umgebaut wurde. Mit bunten Glasfenstern, Orgel und Empore. Beni erzählt von der Überwinterung und von Geschichten, die man über die offiziellen Kanäle sonst nicht erfährt. Die wesentlichen Probleme, die sich aus der zwischenmenschlichen Dynamik in solch kleinen isolierten Gruppen ergeben, sind anscheinend immer noch dieselben wie bei meiner Überwinterung vor 13 Jahren. Die Tatsache, dass es nun Internet auf den Stationen und damit mehr Kommunikationsmöglichkeiten denn je nach „Außen“ gibt, scheint wenig daran zu ändern. Das ist eigentlich eine sehr interessante Schlussfolgerung, die man sicherlich näher untersuchen könnte und sollte. Aber Psychologie ist nicht mein Fachgebiet. Mit der Physik habe ich mehr als genug zu tun.