Tag Eins
Ich habe in der Tat lange geschlafen und damit die Zeitumstellung hoffentlich schon hinter mir. Da die meisten Leute, die zum Südpol reisen, durch Neuseeland kommen, gilt am Pol auch die Zeitzone von Neuseeland. Dies bedeutet 12 Stunden Unterschied zu Deutschland. An sich ist die Wahl der Zeitzone jedoch vollkommen willkürlich, denn am Pol gibt es keine Lokalzeit. Die Sonne steht über den Tag hinweg immer gleich hoch.
Am Morgen trudeln nach und nach weitere Nachrichten ein. Dominique und Yucheng, zwei Kollegen von der Universität in Utah, die auch zum Südpol reisen, sind in Auckland und werden in ein paar Stunden in Christchurch eintreffen. Beni, der ausgehende Research Associate vom Südpol, hängt seit einer Woche in McMurdo fest und wird erst spät in der Nacht ankommen – sofern das Wetter mitspielt und der Flug nicht abermals verschoben wird. Diego schickt weitere Details zu B-SoLiTARe. Es soll nun ein hochrangiges Treffen zwischen der National Science Foundation und dem Balloon Program Office der NASA Anfang Dezember geben. Und Tori meldet, dass das Paket in der Frachtabteilung angekommen ist und für den nächsten Flug in die Antarktis vorbereitet wird. Ich verabrede mich mit Yucheng und Dominique zum Mittagessen am Marktplatz und gehe nach draußen. Ich brauche dringend Bewegung. Kaum habe ich das Hotel verlassen, werde ich beinahe von einem Radfahrer über den Haufen gefahren. Arrrgh. Hier herrscht Linksverkehr, fällt es mir wieder ein. Ich sollte besser aufpassen.
Ich laufe am Fluss entlang zum Park. Christchurch ist eine recht grüne Stadt mit vielen freien Flächen. Letzteres ist eine noch immer sichtbare Folge des verheerenden Erdbebens vor 13 Jahren, bei dem ein Großteil der Stadt zerstört wurde. Nicht alles wurde wiederaufgebaut, und so sieht man neben vielen Grünflächen auch viele Schotterparkplätze mitten in der Stadt, die in Google Maps noch immer die Hausnummern der zerstörten Häuser tragen. Ich bin ziemlich nahe am Zentrum der Stadt untergebracht und laufen den Tramschienen entlang zum Fluss Avon. Erste Station ist die Statue von Captain Robert Falcon Scott, der mit einer der ersten Antarktisexpeditionen das Antarktische Plateau entdeckte, um dann 1912 bei der zweiten Expedition ins Inland auf dem Rückweg vom Südpol während eines Schneesturms 20 km vor dem rettenden Depot zu verhungern. Das Ende von Scott und seinen Kameraden ist eine der großen Tragödien während des goldenen Zeitalters der Antarktisexpeditionen. Ich bin nicht abergläubisch, aber es schadet auch nicht sich der Geschichte der Antarktisforschung bewusst zu sein, wenn man an diese Orte reist. Wie die Geschichte aufzeigt, gibt es oftmals nur einen schmalen Grad zwischen nationalem Heldentum und Wahnsinn.
Ich laufe weiter am Flussufer entlang zum großen Park. Es ist bewölkt und die Sonne nicht zu sehen, so dass ich mir keine großen Gedanken um die UV-Strahlung machen muss. Dennoch habe ich vorsichtshalber Sonnencreme aufgetragen. Bei meiner ersten Reise zum Südpol vor zwei Jahren sah ich am Abend des ersten Tags aus wie ein Brathähnchen. Das möchte ich nicht wiederholen. Der Himmel war damals auch zunächst bedeckt gewesen. Auf dem Rückweg treffe ich Yucheng und Dominique zum Essen am Markt. Es gibt viel zu besprechen und viele Neuigkeiten auszutauschen. Die ersten AWE-Daten, aufgenommen von ihrem Instrument auf der Internationalen Raumstation, sind kalibriert und prozessiert und können nun heruntergeladen werden. Wir diskutieren Orbits, Auflösungen, Verteilungen von in den Daten sichtbaren Schwerewellen und vieles mehr. Später driften wir in die Diskussion der allgemeinen Situation der Wissenschaft in unserem Fachgebiet ab. Eine ganze Reihe von Leuten ist in den letzten Jahren ausgeschieden oder wird sehr bald ausscheiden, während kaum junge Wissenschaftler nachkommen. Wir gehen die Namen durch und das Ergebnis ist deprimierend. Es fallen natürlich nicht nur die Leute weg, sondern auch die Projekte, an denen die Leute zum Teil seit Jahrzenten arbeiteten. Und in vielen Fällen gibt es keine Nachfolger.
Die Tram in Christchurch
Die Statue von Captain Robert Falcon Scott in der Innenstadt