Die fehlende dritte Dimension
Der Wecker klingelt um 5 Uhr. Nach der üblichen „Katzenwäsche“ (Wassersparen!) gehe ich ins Labor und es gelingt mir in der letzten Stunde des SPTR-Satellitenzeitfensters den Rest des git-Repository mit dem Quellcode unseres Lidar-Betriebssystems von dem Server in Deutschland herunterzuladen. Damit ist die Codebasis nun auf dem aktuellen Stand und ich kann die letzten noch fehlenden Module kompilieren. Ich bin schon halb auf dem Weg zur Kantine, als mir einfällt, dass heute Sonntag ist und es nicht wie sonst ab 6 Uhr Frühstück gibt. Bis zum Brunch um 10:30 Uhr sind es noch fast vier Stunden. Wieder im Labor schreibe ich Software zur Temperaturüberwachung und Temperaturregelung von unserem Instrument. Nichts wirklich Dringendes, aber wenn man schon einmal Zeit hat… Drei Stunden später funktioniert dieser Teil und ich gehe zufrieden zurück in mein Zimmer um noch ein paar Seiten im Buch „Rockets and People“ von Boris Chertok zu lesen. Aber nach ein paar Seiten schlafe ich ein. Meine innere Uhr ist ziemlich durcheinander, was vielleicht auch daran liegt, dass es draußen immer gleich aussieht. Es gibt keine Dämmerung, keine Nacht, ja nicht einmal die Höhe des Sonnenstandes ändert sich merklich. Schlafprobleme sind hier sehr verbreitet, vor allem unter den Neuankömmlingen. Von ein paar Leuten weiß ich, dass sie abends Schlaftabletten zum Einschlafen nehmen.
Gegen Mittag treffe ich Christopher und die anderen Kollegen in der Kantine. Hier auf der Station ist die Regel eine sechs-Tage-Woche, d.h. der Sonntag ist für die meisten Leute frei und es bleibt Zeit für ein ausgedehntes Essen. Dann beschließen wir nach draußen zu gehen. Christopher will Fahrradfahren ausprobieren und ich breche zu einem Spaziergang um die Station auf.
Mein erster Stopp ist der zeremonielle Südpol auf der Nordseite der Station. Die Touristen der letzten Tage sind verschwunden und ich kann in aller Ruhe Bilder machen. Die Markierung ist ein Holzpfahl mit einer spiegelnden Kugel. Wenn man sich richtig positioniert, kann man die Reflektionen der Fahnen, die Station hinter sich und sein eigenes Spiegelbild darin sehen. Die Sonne steht allerdings auf der falschen Seite und ich werde nochmals zur richtigen Zeit Bilder machen müssen.
Der zeremonielle Südpol befindet sich auf der Nordseite der Station
Die Reflektion von Bernd und der Station auf der Kugel
Ich laufe weiter Richtung Dark Sector und komme dann in großem Bogen wieder zur Station zurück. Es ist praktisch windstill und die Temperatur ist kaum unter -30°C; ideale Bedingungen für einen Spaziergang. Um die Station herum sind befinden sich eine Reihe von Objekten: Instrumentencontainer, Häuser für die größeren wissenschaftlichen Experimente, Antennenmasten und jede Menge sonstiges Gerät. Ich suche mir ein Objekt aus und laufe darauf zu, muss aber bald feststellen, dass ich mich zwar von der Station entferne, ich dem Objekt aber nicht wirklich näherkomme. Hier auf dem Eis ist es praktisch unmöglich, visuell Entfernungen zu schätzen. Unser Gehirn ist darauf trainiert, die scheinbare Größe von uns bekannten Objekten, wie zum Beispiel Häuser, Autos, Straßen und Bäume, zu vergleichen und daraus dann die Entfernung zu bestimmen. Aber hier funktioniert das nicht, da es keine derartigen Vergleichsobjekte gibt. Ein schwarzer Punkt am Horizont kann ein verlorener Handschuh in 100 Metern Entfernung sein, oder ein paar Kilometer entfernter Schiffscontainer. Hier ist ein Beispiel:
Die Station (links) und ein Luftschacht (rechts)
Das gelbe Objekt auf der rechten Seite mit dem silbernen Ring darauf ist ein kaum mehr als 1 Meter durchmessender Abluftschacht, der vielleicht 50 Meter entfernt ist. Würde eine geteerte Straße von dem Schacht zur Station führen, so könnten wir instinktiv Abstände schätzen. Hier fehlt diese dritte Dimension jedoch völlig. Das führt zu Fehlern in beiden Richtungen: entweder man vertut sich in der Entfernung oder in der Größe der Objekte.
Und noch ein Beispiel:
Ein Antennenmast in der Ferne
Ohne die Höhe des Antennenmasts zu kennen, kann man seine Entfernung überhaupt nicht einschätzen. Ja, ich kann nicht einmal sagen, wie weit der Horizont entfernt ist. Wenn das Eis einigermaßen flach ist, können es mehr als 10 Kilometer sein. Besitzt das Gelände eine Steigung, ist vielleicht schon bei einem Kilometer oder weniger Schluss. Der Punkt hier ist, dass man auch die Steigung im Gelände nicht verlässlich einschätzen kann. Schon allein das Beibehalten einer Richtung ist schwierig und man muss sich sehr darauf konzentrieren, auf dem Eis einen Punkt zu finden, der irgendwie heraussticht. Auf gerader Linie zu laufen, was wir sonst als ganz normal empfinden - zum Beispiel auf eine Straßenecke oder ein Auto zuzulaufen - ist hier mangels Referenzpunkte eine wirkliche Herausforderung. Ich habe großen Respekt vor den ersten Antarktisforschern, die lediglich anhand von in einigem Abstand in das Eis gesteckten Bambusstangen die Richtung ihrer Marschroute bestimmten. Heutzutage haben wir Satellitennavigationsgeräte und können zu jeder Zeit exakt unsere Position und im Verlauf des Weges auch unsere Richtung bestimmen.