Ein Rechenzentrum in der Antarktis
Immer schneller kommt nun das Ende der Sommerkampagne auf uns zu und uns bleiben nur noch zwei Tage bis zur Abreise. Am Samstag werden wir, sofern das Wetter es zulässt, zusammen mit dem Großteil der nicht überwinternden Wissenschaftler nach McMurdo ausgeflogen. Das bedeutet nun die laufenden Arbeiten zu beenden und das Instrument für den Betrieb im Winter fertigzumachen. Ich nutze die verbleibende Zeit dazu, die Startprozedur des Lidars zu vereinfachen. Von uns wird niemand über den Winter vor Ort sein, deshalb wird Hans, einer der beiden überwinternden Wissenschaftstechniker, unser Instrument betreuen. Um ihm die Arbeit so einfach wie möglich zu machen – Hans kümmert sich neben unserem Instrument auch noch um eine ganze Reihe weiterer Instrumente – soll es nur zwei Knöpfe zur Bedienung geben, einen zum Starten und einem zum Stoppen des Lidars. Den Rest macht die Software. Eigentlich ganz einfach, denn bei unserem Lidar in Südamerika brauchen wir gar keine Knöpfe mehr, alles läuft vollautomatisch. Wie so immer steckt jedoch bei der Softwareentwicklung der Teufel im Detail. Im Prinzip ist das Lidar hier einen Kopie des Instruments in Südamerika, aber eben doch nicht so ganz. Die kleinen Unterschiede bewirken, dass unser Lidar hier nicht von selbst starten mag und ich brauche den ganzen Tag, um die kleinen Problemchen zu lösen und die Software entsprechend umzuschreiben. Am Ende funktioniert es: Man drückt „Start“ und nach ein paar Minuten läuft das Lidar, und drückt man „Stop“, so schaltet es sich aus. Ich bin begeistert. Immerhin laufen beim Starten und Stoppen ungefähr 100 Zwischenschritte im Hintergrund ab.
Wir können nun auch endlich das Rätsel um unser warmes Teleskop lösen. Mit einem Handmessgerät misst Christopher die Temperatur der Luft an verschieden Stellen auf dem Dach des Gebäudes und über unserer Lidar-Box. Und siehe da, 10 Zentimeter über dem Dach ist die Luft etwa 10 Grad wärmer als die Außentemperatur gemessen über dem Eis. Statt -35°C messen wir -25°C und im Inneren der Box sind es nur noch -20°C. Was passiert hier? Nun, die Lösung ist beschämend einfach. Die Sonne scheint die ganze Zeit auf das Dach wodurch es erwärmt wird. Das reicht aus, um die Luft über dem Dach deutlich aufzuheizen. Bei den geringen Windgeschwindigkeiten der letzten Tage bleibt die warme Luft über dem Dach und bildet eine Barriere für die kalte Luft darüber. Die Folge: In unserer Lidar-Box bleibt es deutlich wärmer als man naiv erwarten würde. Aber es gibt eine gute Nachricht: Sobald die Sonne im März untergeht, wird sich das Problem von selbst lösen und das Teleskop schön kalt werden.
Nach dem Abendessen nimmt uns Marc mit zu IceCube, dem großen Neutrinodetektor im Eis unweit der Station. Neutrinos sind winzig kleine Elementarteilchen, die fast überhaupt nicht mit Materie wechselwirken und deshalb fast ungehindert durch die Erde fliegen können. Die Betonung liegt hier auf fast, denn in ganz seltenen Fällen stoßen sie mit anderen Teilchen, z.B. dem Sauerstoffatom im Wasser bzw. Eis, zusammen. Dann gibt es einen Lichtblitz, den man detektieren kann. Und weil das so selten passiert, braucht man einen riesigen Detektor. IceCube besteht aus 84 Bohrlöchern im Eis, die bis auf 2,5 Kilometern tiefe reichen. In die Bohrlöcher wurden mehr als 4000 an Ketten hängende Lichtdetektoren, die die Lichtblitze nachweisen können, in die Tiefe gelassen. Das gesamte Volumen von IceCube ist etwa ein Kubikkilometer, d.h. ein Würfel mit einer Kantenlänge von einem Kilometer.
In solchen Glaskugeln von etwa 30 Zentimetern Durchmesser befindet sich jeweils ein Lichtdetektor
Neben Neutrinos gibt es auch noch andere Teilchen, die Lichtblitze im Eis erzeugen, und die wesentlich häufiger sind. Solche Ereignisse treten im Durchschnitt 3000 Mal pro Sekunde auf. Lichtblitze von Neutrinos dagegen sind wesentlich seltener – etwa einmal pro Tag!
Bei mehr als 4000 Detektoren und etwa 3000 Ereignissen pro Sekunde kommen ganz schön viele Daten zusammen, die erst einmal verarbeitet und analysiert werden müssen, um dann die seltenen Neutrino-Ereignisse herauszufiltern. Dazu braucht man ein gar nicht so kleines Rechenzentrum mit mehr als 100 Servern. Die Server und der Rest der Elektronik sind in einem Gebäude über dem Eis in der Mitte von IceCube untergebracht.
Das Gebäude, in dem die Technik von IceCube untergebracht ist.
In den silbernen Türmen zu beiden Seiten laufen die dicken Kabelstränge von den Detektoren aus dem Eis nach oben in den Serverraum. Dort stehen die Server in Schränken aufgereiht und auf der Rückseite gibt sich das übliche Bild der Kabelbündel.
Mehr als 100 Server werden für die Verarbeitung der Daten vor Ort benötigt
Die roten Kabel verbinden die Server mit den mehr als 4000 Detektoren von IceCube
IceCube soll in den nächsten Jahren um eine Vielzahl weiterer Detektoren erweitert werden, um einerseits mehr Neutrinos zu detektieren und andererseits besser die Richtung, aus der die Neutrinos kommen, zu bestimmen. Ein wesentliches Problem ist hierbei das Rechenzentrum. Man kann nämlich nicht einfach nur mehr Server kaufen und hineinstellen, denn dann würde das Kraftwerk der Station überlastet werden. Tatsächlich ist es der verfügbare elektrische Strom, der den Ausbau der großen Experimente hier begrenzt. Bei jedem Upgrade wird genau geprüft, dass das Experiment nicht mehr Strom als vorher benötigt. Auch bei unserem Lidar wurde der Stromverbrauch genau geprüft bevor es genehmigt wurde. Wenn unser Lidar läuft, verbrauchen wir etwa 0,3 Prozent der Kraftwerksleistung.
Beinahe unbemerkt landet heute wieder eine Hercules aus McMurdo. Seit dem vergangenen Samstag ist kein Flugzeug mehr gestartet, hautsächlich wegen schlechten Wetters in McMurdo. Da sich nun hier bei uns den ganzen Tag über eine dicke Wolkenschicht vor die Sonne gelegt hat, rechnete heute eigentlich niemand mehr damit. Dann ist die Hercules da und es heißt wieder von Kollegen Abschied nehmen. Dillan und der Rest des COLDEX-Teams verlassen uns. Ich gehe nach draußen, um den Start zu beobachten. Mit laufenden Triebwerken steht die Hercules neben den Treibstofftanks und hinterlässt lange schwarze Rußwolke auf dem Flugfeld. Die Hercules wird jedoch nicht betankt, sondern in dem dicken schwarzen Schlauch wird Treibstoff vom Flugzeug in die am Rande des Flugfeldes bereitstehenden Tanks gepumpt. Die Station braucht dringend Treibstoff für den Betrieb des Kraftwerks im kommenden Winter. In den letzten zwei Jahren gab es wegen COVID nur sehr wenige Treibstofftransporte zum Pol und nun sind die Lagertanks fast leer. Die Hercules Flugzeuge starten mit vollen Tanks von McMurdo, landen hier, es wird etwa die Hälfte des Treibstoffs abgelassen und dann fliegen sie wieder zurück nach McMurdo. Um genügend Treibstoff zum Pol zu bekommen und die Tanks der Station zu füllen, werden in den nächsten zwei Wochen mehrere Flugzeuge pro Tag erwartet – sofern es das Wetter zulässt.
Die Hercules bringt 6 Wissenschaftler zurück nach McMurdo
Ich stelle mich vor das Flugzeug und warte mit den Kollegen bis das Abtanken des Treibstoffs beendet ist. Die drehenden Propeller erzeugen deutlich spürbare Druckwellen, die den ganzen Körper erfassen und uns leicht durchschütteln, und wir müssen schreien, um uns über den Lärm hinweg unterhalten zu können. Schließlich bekommen die Kollegen das Signal zum Einsteigen und verschwinden durch die kleine Tür an der Unterseite des Flugzeuges keine 5 Meter von den sich drehenden Propellerspitzen entfernt. Das ist eine Militäroperation; bei einem zivilen Flugzeug wäre so etwas undenkbar. Ich winke noch den beiden Piloten zu und ziehe mich dann zurück auf die Seite. Keine fünf Minuten später heulen die Motoren auf und das Flugzeug setzt sich mit einem Ruck in Bewegung. Ein Sturm von durch die Triebwerke aufgewirbelten Eisteilchen erfasst mich und die Hercules verschwindet hinter einer weißen Nebelwand. Etwa 100 Meter entfernt dreht das Flugzeug, biegt auf die Startbahn ein und beschleunigt weiter. Der Eisnebel dämpft die Geräusche und es ist schon beinahe still bis die Hercules in der Ferne abhebt. Einen kleinen Augenblick später ist sie auch schon in den tiefhängenden Wolken verschwunden.
Ich warte noch eine Weile und laufe schließlich zurück zur Station. Der graue Himmel ist ein seltsam ungewohnter Anblick im Vergleich zu dem gleisend weißen Sonnenlicht der letzten Tage und Wochen, hat aber auch etwas ungeahnt Beruhigendes. Nach den hektischen Wochen den Sommer über scheint sich eine gewisse Erschöpfung auf der Station breit zu machen. Ich kann gut verstehen, dass die Winterbesatzung uns nun eher früher als später forthaben möchte. Mir ging es damals nicht anders.
Die Station vor grauem Himmel. Die Schneeberge des letzten Winter sind mittlerweile abgetragen.