Es ist unser sechster Tag in McMurdo und so langsam falle ich in eine Art Routine, die im Wesentlichen durch die drei warmen Malzeiten in der Kantine und Arbeit an meinem Laptop geprägt ist. Ansonsten gibt es für uns nicht viel zu tun. Wir sind Gäste auf der Durchreise, unfreiwillig gestrandet auf der größten Station in der Antarktis. Unsere Situation ist nicht ganz unähnlich der amerikanischen Astronauten auf der ISS, welche Aufgrund von Defekten in ihrer Raumkapsel nun seit Monaten auf ihren Rückflug warten: Wir gehören nicht zur Stationsbesatzung und haben hier auch keine Aufgabe. Das bringt uns in eine Art Sonderstellung zusammen mit den Politikern, welche nächste Woche hier erwartet werden. Sie kommen hierher, weil sie es können – ohne ihren Anteil für die Station und deren Betrieb zu leisten. Das ist verpönt in der Community. Sich durchfüttern zu lassen und anderen Leute die Plätze wegzunehmen, kommt nicht gut an. Viele Wissenschaftsprojekte wurden gestrichen, weil es aufgrund der Bautätigkeit in McMurdo derzeit nicht genügend Platz auf der Station gibt. Die National Science Foundation verhängte nun schon das zweite Jahr in Folge einen Antragstopp für neue Forschungsprojekte. In unserem Fall sind die Bewohner der Station alle sehr freundlich und mitfühlend, denn wir wollen ja weiterziehen. Es bleibt aber immer das aber, denn wir gehören eigentlich nicht hier her. Das merkt man an so Kleinigkeiten wie die Nichteinteilung zum Putzdienst „Hausmaus“.

McMurdo hat aktuell 805 Bewohner, von denen der überwiegende Großteil für den Betrieb der Station gebraucht wird. Ein kleinerer Teil sind Bauarbeiter für den Bau des neuen Wohngebäudes, und ein noch kleinerer Teil sind Wissenschaftler und gestrandete Reisende wie wir. Neben der Hauptstation auf der Insel gibt es drei Camps auf dem Eis vor der Station: die beiden Flugplätze Williams Field und Phoenix, und LDB. Letzteres steht für Long Duration Balloon. Hier werden Stratosphärenballone der NASA gestartet, welche in den Polarwirbel eintreten und darin über zum Teil Wochen hin ein bis drei Mal um den Pol kreisen, bevor die Nutzlast bestehend aus wissenschaftlichen Instrumenten wieder auf dem Eis gelandet und geborgen wird. Wir sind an der NASA-Mission B-SoLiTARe, die hoffentlich in drei Jahren starten wird, beteiligt. Die drei Camps auf dem Eis müssen jeweils mit technischer Infrastruktur wie Kraftwerk und Kommunikation versorgt werden. Hinzu kommt die Logistik, die Kantine und der tägliche Personentransport von McMurdo dorthin und wieder zurück. Das alles bindet viel Personal. In McMurdo gibt es allein 30 Feuerwehrmänner bzw. Feuerwehrfrauen in Vollzeit, von denen jeweils 8 zu den Flugplätzen abgeordnet sind. Wenn man diese Masse an Gerät hier sieht – Gerät, dass auch gewartet und repariert werden muss – dann ist es nicht verwunderlich, dass es für Wissenschaftler nicht viel Platz gibt. Aber die Wissenschaft ist auch nur sekundär. Primär ist das hier eine Machtdemonstration. Als Wissenschaftler profitieren wir natürlich davon und lassen uns gerne vor den Karren der Rechtfertigung spannen, nach dem Motto „die Station ist für die Wissenschaft“. Aber im Grunde ist es andersrum. Die Station ist aus politischen Gründen da, und wenn sie schon einmal da ist, dann können wir Wissenschaftler sie auch nutzen.

Nach einem Blick auf die Wettervorhersage ziehe ich meinen Abendspaziergang heute vor. Es ist Schnee vorhergesagt und tatsächlich fängt es leicht an zu schneien, als ich mich auf den Weg nach oben auf Observation Hill mache. Von dort hat man einen guten Überblick über die Station und kann bei gutem Wetter die Camps auf dem Eis sehen. Heute sind jedoch nur die Umrisse von LDB und Williams Field zu erahnen; Phoenix kann ich nicht erkennen. Dafür ist es warm und ich komme beim Aufstieg ins Schwitzen. Unsere Jacken sind für den Südpol gemacht und nicht für das warme Sommerwetter in McMurdo. Auf dem Gipfel ist es windig und ich ziehe mir die Kapuze tief ins Gesicht. Trotz der vergleichsweise milden Temperaturen kann man sich bei starkem Wind leicht Erfrierungen holen, wenn man nicht aufpasst. Ich beobachte das Treiben in McMurdo unter mir. Ein Raupenkran befreit ein LKW-Rack mit Heliumzylindern aus einem großen Schneehaufen. Das Helium ist sicher für die großen Ballone. Mehrere Stapler fahren umher; ein Raupentraktor mit einem riesigen Schneeschild kommt um die Ecke und biegt auf die Hauptstraße ein; Shuttles bringen Leute von A nach B; Baufahrzeuge sind unterwegs; ein mobiler Kran hebt ein Teil der Dachkonstruktion auf das neue Wohngebäude. Es ist viel los hier. Auf diversen Geräteparkplätzen zähle ich über 100 abgestellte Fahrzeuge. Überall stehen Frachtcontainer rum, wahrscheinlich in Summe mehr als tausend.

Der Gipfel von Observation Hill Der Gipfel von Observation Hill

Panorama Ein Panorama mit den Camps auf dem Eis in der Ferne

McMurdo McMurdo von Observation Hill aus gesehen

Beim Abstieg komme ich an einer Erinnerungstafel vorbei. Hier stand von 1962 bis 1973 das einzige jemals in der Antarktis betriebene Atomkraftwerk. Es wurde von der amerikanischen Navy aufgebaut und hatte eine vergleichsweise kleine elektrische Leistung von nur 1,6 MW. Nach 10 Jahren war dann Schluss wegen Korrosionsproblemen und das Kraftwerk wurde abgebaut. Seitdem wird die Station wieder ausschließlich mit Dieselgeneratoren versorgt. Die Neuseeländer bauten in den letzten Jahren mehrere Windturbinen auf einer kleinen Anhöhe für die Versorgung ihrer Station. Die Amerikaner haben an Windenergie kein Interesse. Ihre großen Versorgungsschiffe können genügend Diesel ranschaffen.

Das Wetter wird schlechter. Nach dem Abendessen sind die Camps alle auf Condition 1, was bedeutet, dass man die Gebäude nicht mehr verlassen darf. Es gibt drei Stufen zur Gefahrenbeurteilung. Condition 3 bedeutet keine Einschränkungen; bei Condition 2 werden alle Außenaktivitäten auf das absolute Minimum reduziert, und bei Condition 1 geht man nicht mehr nach draußen. Auch in McMurdo herrscht nun dichtes Schneetreiben.