In Wartestellung
Die Tage in McMurdo werden langsam wieder Routine. Aufstehen, Frühstück, Arbeit in der Bibliothek in Cary, Mittagessen, Arbeit in der Bibliothek in Crary, Abendessen, Spaziergang und ab ins Bett. Nachdem TJ es nach Christchurch geschafft hat, sind zwei neue Mitbewohner hier eingezogen. Jonas, ein Ingenieur von der Universität Stockholm, der bei den Vorbereitungen für die Eisbohrungen von IceCube am Pol mithelfen wird, und ein Wissenschaftler von der Universität in Fairbanks Alaska. Letzterer wird sich um den Doppler Imager am Pol kümmern – ein Instrument zur Messung von Airglow-Winden. Er war auch kürzlich für eine Raketenkampagne in Andenes, Norwegen. Wir reden eine Zeit lang über die Rocket Range in Andenes (nun Andoya Space Center) und wie es früher dort war. Jonas erzählt von seiner ersten Reise zum Pol, als es die große Station noch nicht gab und der Dom noch existierte. Viele seiner Erfahrungen decken sich mit meinen Erfahrungen von der alten Station von Davis, und wir sind uns einig, dass die „alte Zeit“ endgültig vorbei ist. So angenehm das Leben auf den modernen Stationen nun auch sein mag, etwas ist mit den alten Stationen auch unwiederbringlich verloren gegangen, oder wie Jones es ausdrückt: „das Gefühl in der Antarktis zu leben“.
Nachdem ich meine Arbeit für heute erledigt habe, mache ich mich auf den Weg nach Hut Point. Es ist vermutlich meine letzter Abendspaziergang hier. Wenn alles klappt – zumindest das Wetter sieht momentan gut aus – dann werde ich morgen um diese Zeit in einer C-130 auf dem Weg nach Christchurch sein. Vor dem Science Support Building hat sich jemand einen Scherz erlaubt und einen kleinen Teich aufgestaut und Plastikenten darin ausgesetzt. Man sieht hier immer wieder schräge Dinge. Ein Jahr an einem Ort wie McMurdo bringt in manchen Personen ungeahnte Kreativität zum Vorschein. Gleichzeitig ist die Gemeinschaft ungemein tolerant. Ich kann verstehen, warum dieser Ort für manche eine große Anziehungskraft ausübt. Es ist geradezu die Utopie einer extrem liberalen Gesellschaft. In Gebäude 155 hängt ein Bild auf dem die Bewohner von McMurdo eingeladen wurden, ihre Gründe für ihr Herkommen zu notieren. Die Gründe sind so vielfältig wie die Menschen hier: Abenteuerlust, eine gescheiterte Beziehung, die Unfähigkeit in einer “normalen” Gesellschaft zurecht zu kommen, ein gut bezahlter Job, Antarktisfieber, etwas vollkommen anderes zu erleben.
Es hat sich jemand einen Scherz erlaubt und Plastikenten in dem kleinen Teich neben dem Science Support Building ausgesetzt.
Auf der freien Fläche am Hafen spielen zwei Gruppen auf improvisierten Spielfeldern Baseball. Es ist immer noch sehr warm hier; schon am Vormittag ist die Temperatur auf über 0°C Grad geklettert. Man hört überall das Rauschen der kleinen Schmelzwasserbäche, nur hier und da übertönt vom Brummen der Dieselmotoren im Kraftwerk. Lange werden die Spielfelder nicht Bestand haben. Am Hafen wird ein neuer Pier für die großen Versorgungsschiffe gebaut. Gegenüber ist die Stahlkonstruktion für das neue Wohngebäude fast fertig und die ersten Wandelemente werden eingesetzt. Es wird viel gebaut wofür viel zusätzliches Personal benötigt wird. Für das zusätzliche Personal wird dann noch mehr Infrastruktur gebaut. Es ist wie ein Biest, das sich selbst auffrisst. Marion, eine Programmanagering der NSF, hat das in ihrem Vortrag am Pol sehr nüchtern dargelegt. Die USA geben jedes Jahr etwa 500 Millionen Dollar für die Polarforschung aus. Mehr als Dreiviertel von der Summe fließt in die Logistik und die Infrastruktur. Die tatsächlichen Ausgaben für die Forschung machen demnach weniger als ein Viertel davon aus. Umso mehr sich das Biest selbst auffrisst, umso weniger Geld bleibt für die Forschung. Aktuell leben etwa 800 Menschen in McMurdo. Man kann sich ausrechnen, wie viele davon Wissenschaftler sind.
Das Meereis vor Hut Point ist immer noch fest mit dem Land verbunden, aber es sind ganz deutlich Risse im Eis und Schmelzwasserseen zu erkennen. Die Robben haben sich entlang der Risse niedergelassen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis das Eis aufbricht. Spätestens Anfang Januar, wenn das Versorgungsschiff kommt, wird ein Eisbrecher der US Küstenwache die Zufahrt zum Hafen freiräumen. Dann wird von hier bis zum McMurdo Sund für ein paar wenige Wochen offenes Wasser sein.
Das Meereis vor Hut Point. Was wie aufgewühltes Wasser wirkt ist der Rest von Schnee auf dem Eis. Feine Staubpartikel auf dem Schnee werden von der Sonnenstrahlung aufgeheizt und schmelzen sich in die Schneeoberfläche ein.
McMurdo vom Hafen aus fotografiert.