Wie erwartet findet der Flug heute nicht statt. Während hier den ganzen Tag Sonnenschein und blauer Himmel herrschen, ist das Wetter in McMurdo so schlecht, dass keines der Flugzeuge starten kann. Auch die interkontinentalen Flüge sind abgesagt bzw. verschoben. Das bringt mir einen extra Tag am Pol, und da ich alle Arbeiten am Lidar gestern erledigte, ist das für mich ein freier Tag – der erste freie Tag seit drei Wochen. Zumindest fast frei, denn die Einweisung von Melinda in das Lidar steht noch auf dem Programm. Melinda ist eine der beiden Research Associates, die das Lidar den Winter über bedienen werden. Die Einweisung ist schnell erledigt, aber eine Komplikation gilt es noch zu überwinden. Melinda hat eine sehr kleine Statur und schafft es nicht, die Luke über dem Teleskop herauszuheben. Wir überlegen uns ein Hilfsmittel, eine Art kleinen Kran, den die Schreiner bauen werden. Damit sollte es gehen.

Was fängt man mit einem freien Tag am Pol an? Nun, ich möchte das gute Wetter nutzen und einen ausgiebigen Spaziergang über das Stationsgebiet machen. Man läuft zwar viel in der Station den ganzen Tag und es gibt neben der Turnhalle ein Laufband gegen Bewegungsmangel, ich ziehe jedoch Bewegung draußen vor. Auf Davis bestand die Station aus mehreren Gebäuden, so dass man zwangsweise mehrmals pro Tag sich zumindest kurzzeitig draußen aufhielt. Hier am Südpol sind alle wesentlichen Einrichtungen in einem Gebäude untergebracht: Schlaftrakt, Kantine, Labor. Das ist praktisch im Winter, wenn man wegen der Kälte wirklich nicht rausgehen will. Ich vermisse aber den Bezug zur Umgebung, wenn man sich Tag ein Tag aus nur drinnen aufhält. Das Labor könnte genauso gut in irgendeinem anderen Teil der Welt stehen. Aber ich muss mit dem Spaziergang noch warten, denn offiziell ist der Flug nur verschoben und nicht abgesagt. Erst am Nachmittag fällt die endgültige Entscheidung für heute.

Nachdem ich mich für Draußen angezogen habe, verlasse ich die Station über Destination Zulu auf der Südseite, gehe einmal um die Station herum, und wende mich schließlich nach Nordwesten Richtung Südpolteleskop. Richtungsangaben am Pol mögen auf den ersten Blick verwirren, denn alle Richtungen sind nördlich. Man hat jedoch schnell festgestellt, dass man auch hier brauchbare Richtungsangaben benötigt. Also hat man das normale Gitter mit den vier Himmelsrichtungen genommen, den Mittelpunkt auf den Pol gelegt, und Norden als die Richtung definiert, die mit dem Nullmeridian zusammenfällt. Richtungsangaben in Polnähe werden daher normalerweise mit dem Zusatz „Grid“ versehen, um klarzustellen, dass es sich um Angaben auf dem Polgitter handelt und nicht um wahre Himmelsrichtungen. Ich hätte also korrekterweise „Grid Nordwest“ schreiben sollen. Aber um die Verwirrung komplett zu machen, lassen die Leute hier den Zusatz „Grid“ meist weg, nach dem Motto, es ist doch klar, was gemeint ist.

Das Südpolteleskop ist ein astronomisches Teleskop für den Radiowellenbereich. Es werden derzeit neue Detektoren eingebaut oder die Detektoren gewartet, denn der große Reflektor steht senkrecht und der Arm mit den Detektoren ist auf das Gebäude daneben absenkt. Man kann das Dach des Gebäudes öffnen und um den Arm des Teleskops herum wieder schließen, so dass man aus dem Gebäude heraus Zugang zu den Detektoren erhält. Das macht die Wartung wesentlich einfacher und schützt die empfindlichen Komponenten vor Wind und Schnee. Die Wissenschaftler und Ingenieure haben sich wirklich clevere Lösungen ausgedacht, um den hier herrschenden Umweltbedingungen zu trotzen.

Die Detektoren des Südpolteleskops werden aktuell gewartet.

Weiter geht es zu IceCube, dem großen Neutrinodetektor. Was sich in dem Gebäude befindet, darüber habe ich in einem Artikel vor zwei Jahren geschrieben. Die mehr als 4000 Detektoren kann man nicht sehen, denn sie befinden sich tief unten im Eis. Nächsten Sommer werden sieben neue Löcher ins Eis gebohrt und neue Detektoren darin versenkt. Die Vorbereitungen für die Bohrarbeiten sind jedoch schon längst im Gange. Es sind komplizierte Arbeiten, die eine Menge Technik benötigten. Entsprechend wurde in der Nähe von IceCube ein eigenes Camp aus einer Vielzahl von Containern erreichtet, mit Kraftwerk, Steuerzentrale und vielen Ölheizungen. Gebohrt wird nämlich mit heißem Wasser, und das Wasser muss schnell genug erhitzt werden.

Dieses Gebäude beherbergt das Rechenzentrum von IceCube. In den silbernen Türmen laufen die Kabel zu den Detektoren ins Eis.

Diese beiden Hütten sind die Bohrtürme für die neuen Löcher im Eis.

Das Drill Camp. Die roten Container auf der linken Seite mit den schwarzen Säcken auf den Kaminen beherbergen die Heizungen für den Heißwasserbohrer.

Auf dem Rückweg zur Station überquere ich die Schneelandebahn des Flugfeldes. Auf beiden Seiten des Weges stehen Schilder mit Warnlampen, die zum Stehenbleiben auffordern, wenn die Warnlampen aktiv sind. Für heute sind jedoch keine Starts oder Landungen geplant und die Warnlampen sind aus. Ich kann passieren.

Die Schneelandebahn

Ich laufe an der Station vorbei am Flugfeld entlang nach Grid Süden bis zu den großen Schneehalden, welche das unmittelbare Stationsgebiet begrenzen. Daneben befinden sich unter weißen Domen die großen Satellitenempfangsanlangen – unsere Verbindung nach außen. Ich mache Rast und setzt mich auf einen kleinen Schneehügel hinter den Halden. Von hier aus hat man eine ungestörte Sicht bis zum Horizont, und alles, was an die Station erinnert, liegt hinter meinem Rücken. Es ist wieder einmal vollkommen windstill und warm in der Sonne. Ein Mittagsschlaf im Schnee ist jetzt verlockend, wäre aber bei den herrschenden -30°C zu gefährlich. Sollte Wind aufkommen, kann es sehr schnell bitterkalt werden. Also mache ich mich nach ein paar Minuten Rast auf den Rückweg. Tatsächlich spüre ich etwas später leichten Wind im Gesicht, und ich ziehe meinen Schal hoch, um die Haut vor der Kälte zu schützen.

Ich sitze auf dem Schneehügel mit freiem Blick zum Horizont.

Rechtzeitig zum Abendessen bin ich wieder zurück an der Station. Es gibt Kartoffelbrei mit Käse und Fleisch. Das Fleisch ist ok, der gebratene Kohl auch, aber warum ausgerechnet Käse im Kartoffelbrei? Manche Geschmackskombinationen der Amerikaner erschließen sich mir nicht.

Auf meinem Zimmer schreibe ich diesen Bericht und esse das letzte Stück meiner mitgebrachten Schokolade. Ja, es wird Zeit nach Hause zu kommen.